Das Oberstübli lüften

von

in

Podcasts quetschen Informationen zwischen meine Ohren. Netflix reisst mich durch vorgefertigte Geschichten hindurch. Meinem Gehirn wird alles auf einem Silbertablett serviert, so dass es sich keinen Millimeter weit ausstrecken muss, um an Informationen zu gelangen. Wenn aber plötzlich eine Leerstelle auftaucht, eine Information fehlt oder etwas nicht zusammenpasst, dann erst wird meine Kreativität wachgerüttelt.

Kürzlich stand ich an der Bushaltestelle. Der Bus hatte Verspätung. Ich wurde nervös. Meine Hände griffen zitternd nach dem Handy. Ich atmete erleichtert auf, als sich der Instagram-Feed öffnete. Beinahe wären meine Gedanken frei herumgeschwebt, ohne von einem unterhaltsamen Meme oder einer beruhigenden Podcast-Stimme kanalisiert zu werden – undenkbar!

Doch plötzlich führte eine Kinderfrage meine Gedanken auf bisher unbetretenes Terrain: „Papa, warum regnet es eigentlich auch an Sonntagen?“, hörte ich mit halbem Ohr.

Es fühlte sich an, als würden die Fenster in meinem Oberstübli zum ersten Mal seit Monaten gelüftet.

Die abgestandenen Informationen verschwanden und an ihre Stelle traten eigene, frische Gedankenfiguren: „Wenn am Sonntag Wasser vom Himmel fällt, dann ist das kein Regen, sondern Schweiss der Sonne.“ In meinem Kopf formten sich ganze Geschichten, wie der Regen mit der Sonne einen Deal aushandelt, damit er trotz ihrer Scheidung weiterhin am Sonntag das Besuchsrecht behielt. Meine Kreativität war nicht mehr zu stoppen.

Ich gestatte es meinen Gedanken nur selten, sich zu langweilen.

Doch ohne Bewegungsfreiheit verlieren meine Imaginations-Muskeln ihre Kraft.

„Digital Detox“ wäre ein Weg, um sich gegen die immerwährende Flut aus Nachrichten und Videos zu schützen. Ich kann aber auch bewusst Räume und Zeitpunkte schaffen, die meine Kreativität hervorkitzeln. Damit meine ich keinen Bastelverein um einen Wandbehang zu häkeln. Sondern Momente, an denen ich mich mit mir selbst auseinandersetze und dem, was in mir drin abgeht, einen Ausdruck verleihe.

FänstersimsZiit ist eine Community von jungen Menschen, die genau dies versuchen: Ein Poetry Slamer erzählt, wie er mit Leistungsdruck umgeht und unterstützt die Workshop-Teilnehmenden dabei, Texte über ihre eigenen Erfahrungen mit Leistungsdruck zu schreiben. Mit einer Handlettering-Artist zusammen wird ein persönliches Lebensmotto in einen Sticker verwandelt. Und über den Instagram Kanal werden immer wieder „Kreative Bettmümpfeli“ geteilt, um kreative Momente in den Alltag einzuflechten.

Ich selbst nutze diese kreativen Prozesse manchmal, um mit Gott zu sprechen.

Wenn die Wogen meiner Gedanken nicht ständig aufgepeitscht werden, sondern wie ein ruhiger See daliegen, kommt es vor, dass sich darin ab und zu himmlische Lichtstrahlen spiegeln.

Ich spüre, wie Gott den Leistungsdruck von meinen Schulter nimmt oder mein Lebensmotto liebevoll in Frage stellt. Es ist wohl kein Zufall, dass ich mich gerade in einem schöpferischen Prozess dem Schöpfer etwas näher fühle.

Anna Näf, Jugendarbeiterin, Projektleitung FänstersimsZiit


Hinterlasse einen Kommentar